Sachsenweiter Blick ins Hilfessystem für Betroffene von sexualisierter Gewalt
Susanne Dimmer und Elisabeth Andreas haben die Hilfestrukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt in Sachsen als Spezialistinnen besonders gut im Blick! Im Interview mit Susanne Dimmer (rechts im Bild), erfahre ich, dass sie neben ihrer Arbeit für das Unterstützungsnetzwerk außerdem Kulturwissenschaftlerin, Begabtenforscherin und Kompetenzentwicklerin, Sozialwissenschaftlerin, Trainerin für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und aktiv in verschiedenen feministischen Kontexten ist.
Erfreut über so viel Kompetenz und Engagement bleibe ich neugierig.
Ich sitze das zweite Mal innerhalb der Projektlaufzeit (01.01.2021 – 31.10.2024) in diesem blauen Sessel im Beratungsraum bei Bellis e. V. und spreche mit Susanne Dimmer, Projektkoordinatorin des Unterstützungsnetzes für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung in Sachsen.
Normalerweise sitzen in diesem blauen Sessel Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung und werden von den beiden Psychologinnen Anita Zelenika oder Helen Siebner, zuständig für den LK Leipzig, traumasensibel und fachkundig beraten. Ich sitze Susanne Dimmer heute als eine Art „Lautsprecherin in die Fachschaft“ gegenüber. Denn sie und ihre Kollegin Elisabeth Andreas haben ordentliche Anschubarbeit in Sachsen geleistet. Ich habe als Regionalreferentin des Landkreises Leipzig dieses Netzwerkes so gut ich konnte unterstützt und jede Menge Lehrreiches über Strukturen, Menschen und Politisches mitgenommen.
Wie kam es überhaupt zu der Idee so ein Unterstützungsnetzwerk in Sachsen auf- und auszubauen?
Ulrike Böhm und Susanne Hampe, Gründerinnen von Bellis e. V., arbeiten schon seit vielen Jahren mit Betroffenen von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Schon lange sahen beide eine klaffende Lücke, wenn es um die medizinische Versorgung und die vertrauliche Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt ging. 2019 war es dann politisch Thema im sächsischen Ministerium und Bellis stellte einen Antrag zur Finanzierung dieses ersten Projektes zur Medizinischen Soforthilfe für Betroffene. Damit fing eigentlich alles an. Den Blick auf die Landkreise in Sachsen hatten beide auch damals schon, da die Strukturen in der Stadt schon immer viel besser waren als auf dem Land. 2021 stellte Bellis e. V. dann den Antrag zur Finanzierung des Projektes „Aufbau eines Unterstützungsnetzes […]“.
Elisabeth Andreas und ich kamen als Koordinator*innen ins Team und suchten dann erstmal sachsenweit nach Personen, die sich mit den Strukturen des Hilfesystems vor Ort auskannten.
Ziel war es am Anfang erstmal für das Thema zu sensibilisieren und dann erst darauf aufbauend neue Angebote zu schaffen.
Welcher Auftrag stand hinter dem Projekt?
Wir sind 2021 mit dem Auftrag gestartet, in sechs Modellregionen im Sachsen Unterstützungsstrukturen aufzuarbeiten und zu schauen, was gibt es da schon. Wir sollten Fachkräfte vernetzen und die vorhandenen Strukturen in der Region zum Thema sexualisierte Gewalt bündeln. Wir haben im ersten Jahr sechs Expert*innen gefunden, die die Schnittstelle zwischen Ärzt*innen, anderen Organisationen, der Politik und den psychosozialen Fachkräften vor Ort und dem, was wir koordinieren, bilden. Es gibt in jedem Landkreis unterschiedliche Vorgehensweisen und andere politische Zusammenhänge, die den Ausbau des Hilfesystems begünstigen oder erschweren. In manchen Regionen liegt der Fokus zuallererst auf der Sensibilisierung von Fachkräften. In anderen Landkreisen vor allem im Aufbau von konkreten Fachberatungsstellen, in anderen Landkreisen im Aufbau von Netzwerkstrukturen. Unsere Hauptaufgabe war es vor allem, das zu begleiten.
Elisabeth Andreas (links) und Susanne Dimmer (rechts), Koordinatorinnen des Modellprojekts Unterstützungsnetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen für Betroffene sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung in Sachsen.
Das klingt nach einem Weitblick, den ihr nach zwei Jahren intensiver Arbeit über Sachsen habt. Wie würdest du die Situation für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung einschätzen?
In den ländlichen Regionen gab es zu Beginn keinerlei Strukturen für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung. In den Ballungsgebieten Chemnitz, Dresden und Leipzig fanden wir hingegen teilweise schon ganz gute Strukturen, wo wir anknüpfen konnten.
Wir mussten schauen, wer schon zum Thema arbeitet und wer Betroffene quasi „mitversorgt“. Nur weil es keine Fachberatungsstellen gibt, gibt es ja trotzdem Betroffene! Das führt einerseits zu einer Überlastung und andererseits zu einer unspezifischen Beratung für Betroffene, die in ihrer Not eben nur „mitberaten“ werden. Zum Beispiel in Elternberatungsstellen, in der Schwangerschaftskonfliktberatung, der Schuldnerberatungen oder auch in Suchtberatungsstellen. Es fehlt spezialisiertes Wissen über traumsensible Beratung nach sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung, die, so gut sie es auch meinen, eben nicht alle Fachkräfte haben.
Unser erster Schritt war zu schauen, welche Akteur*innen sind im Landkreis aktiv, wie arbeiten die und was brauchen diese Akteur*innen. Der zweite Schritt war zu schauen, welche Arbeitskreise gibt es schon, wie vernetzt sind sie und ob wir ggf. an die Strukturen, die es z. B. im Frauenschutz schon gibt, anknüpfen können. Frauenschutz ja schon seit einigen Jahren für die Landkreise gesetzlich verpflichtend.
In welchen Regionen in Sachsen sind gute Strukturen vorhanden und in welchen Landkreisen gibt es kaum oder gar keine Strukturen für Betroffene nach sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung? Kannst du Landkreise konkret benennen?
Ja, im Landkreis Görlitz zum Beispiel gibt es schon gute Strukturen, weil die Fachkräfte sehr engagiert sind. Es kommt immer auf das Engagement der Fachkräfte an und auf welche politischen Gegenkräfte die Akteur*innen dort stoßen. Im Landkreis Mittelsachen und im Erzgebirgskreis da gab es bis vor kurzem gar nichts. Da gab es auch niemanden, der das Thema überhaupt schon einmal auf dem Tisch hatte. Unsere Regionalreferentinnen hatten dort immer wieder die Aufgabe, das Thema mitzunehmen, zu benennen und aufzuklären.
Kannst du die Erfolge, die du seit Beginn der Arbeit verzeichnest, benennen?
Seit 2022 sind wir mit dem Unterstützungsnetzwerk in allen 10 Landkreisen in Sachsen vertreten. Es zeichnet sich ab, dass wir in sieben von zehn Landkreisen zum Ende des Modellprojektes im Oktober 2024 jeweils mindestens eine Fachberatungsstelle, entweder mobil oder ambulant, für Betroffene etablieren konnten, was für die kurze Zeit ein großer Erfolg ist. Und, es hat in allen Landkreisen eine intensive Vernetzungsarbeit stattgefunden. Ganz offiziell gibt es jetzt gerade drei weitere Fachberatungsstellen, die ab Anfang 2024 die Arbeit aufnehmen, Landkreis Mittelsachsen, Landkreis Erzgebirgskreis, Landkreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge.
Wie kann eure Arbeit verstetigt werden? Diese zwei Jahre waren ja quasi nur eine Übergangszeit. Wer soll zukünftig die Vernetzungsarbeit koordinieren, wenn es das Projekt nicht mehr gibt?
Wir haben schon bei der Beantragung der ersten Projektphase überlegt, wie wir das Projekt verstetigen können und die Vernetzungsarbeit zwischen den Fachkräften vorantreiben können, da ja klar war, dass das Projekt irgendwann enden wird. Schon damals war klar, dass wir eine Neugründung einer Landesarbeitsgemeinschaft „Sexualisierte Gewalt – Prävention/Intervention“ anstreben. Dafür ist eine Koordinierungsstelle beantragt, die quasi alle Fachberatungsstellen für sexualisierte Gewalt koordiniert und vernetzt. Diese soll ab 01.04.2024 die Arbeit aufnehmen. Diese Vernetzungsarbeit ist für die Fachkräfte vor Ort eine wichtige fachliche Stütze. Das Fachwissen kann an dieser Stelle gebündelt werden und die Unterstützung von Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung kann sich so institutionalisieren.
Patriarchale Strukturen in der Kommunalpolitik verschließen über Jahre die Augen
Der sachsenweite Blick über die politischen Entscheidungsstrukturen in den Landkreisen und Kommunen, hat mich immer wieder erstaunt. Durch die Arbeit im Unterstützungsnetzwerk durfte ich, neben vielen interessanten Akteur*innen aus unterschiedlichen Organisationen des Hilfesystems, auch die beiden Gleichstellungsbeauftragten der Landkreise Sächsische Schweiz Osterzgebirge, Teresa Schubert, die leider nicht mehr im Amt ist, und Annett Schrenck, die Gleichstellungsbeauftragte für den LK Mittelsachsen kennenlernen. Die Tabuisierung patriarchaler Gewalt, egal ob sexualisiert oder häuslich, ist leider in vielen ländlichen Regionen immer noch an der Tagesordnung und wird durch das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in den Kommunen auch zunehmend deutlicher und damit vielleicht auch noch mehr institutionalisiert. Achtung! Ungern wird das Thema in den Fokus genommen. Die Berichte über die Kämpfe, die beide Politikerinnen über Jahre in den Ausschüssen und Gremien ausfechten mussten, um Hilfestrukturen zu etablieren, mit welchen Stigmatisierungen sie konfrontiert waren und wie oft sie im Kampf für ein adäquates Hilfesystem für Betroffene von patriarchaler Gewalt nicht gehört wurden, hat mich schockiert.
Schön ist aber, dass es zum Projektende in (fast) jedem Landkreis in Sachsen einen Beratungssessel geben wird und Personen, auch die Töchter, Enkel*innen und Ehefrauen von Entscheidern auf diesem Platz nehmen können, ganz egal, womit sie kommen. Denn “hinter den sieben Bergen” gibt es auch patriarchale Gewalt! Deshalb müssen wir weiter und immer wieder darüber sprechen!