Das Münchner Modell im Landkreis Leipzig
Im Interview mit Carola Hügerich, Mitarbeiterin im Frauen- und Kinderschutzhaus.
Wir haben im Verein über die Hammer-Studie gesprochen. Was bedeutet die Studie für euch als Mitarbeiterinnen im Frauen- und Kinderschutzhaus? Was ist der Kern der Diskussion und warum ist diese Studie für euch wichtig?
Carola:
Die Hammer-Studie trifft, auch wenn die Sprache an einigen Stellen für eine wissenchaftliche Studie ganz schön reißerisch ist und die Forschungsmethode nur knapp dargestellt wird, den wunden Punkt unserer Arbeit. Immer wieder erzählen uns Frauen*, dass in Sorge- und Umgangsverfahren ihre Gewalterfahrung in Frage gestellt wird. Sei es, vor Gericht, als auch, wenn Kinder im Haushalt leben, bei Beratungen in Jugendämtern. Das Narrativ Mütter entfremden dem Vater die Kinder, manche sprechen auch vom Parental Alienation Syndrome (PAS), sind aus unserer Erfahrung heraus übliche Muster in der Rechtsprechung, die wir auch in der Arbeit hier vor Ort erleben. Das PAS ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen und scheint dennoch von entscheidungstragenden Fachleuten in Justiz und Kinderschutz akzeptiert und angewandt zu werden.
Alarmierend finde ich auch, dass es keinen einheitliche Lehrplan in der Ausbildung für Verfahrensbeistände gibt und eine pädagogische oder kinderpsychologische Ausbildung sowie Praxis in einem psychologischen bzw. pädagogischen Handlungsfeld mit Kindern neben dem familienrechtlichen System nicht von Nöten ist, um den Willen des Kindes einschätzen zu können, was schließlich die Aufgabe von Verfahrensbeständ*innen („Anwält*innen des Kindes“) sind. Teilweise sind die Ausbildungen sehr kurz gehalten. Auch für Richter*innen besteht keine Weiterbildungspflicht in Entwicklungspsychologie. Ich lese diese Studie aus meiner Beraterinnenperspektive und kann viele Thesen durch meine Arbeitserfahrung untermauern.
Wie läuft das konkret ab, wenn es zum Familiengericht geht? Wie arbeitet ihr bei Sorge- und Umgangsfragen mit den unterschiedlichen Vertreter*innen zusammen?
Welche Erfahrungen hast du gemacht?
Carola:
Was ich grundsätzlich erlebe, ist eine enorme Arbeitsbelastung aller Beteiligten. Kontakt haben wir als Mitarbeiterinnen im Frauen- und Kinderschutzhaus mit den anderen Fachkräften häufig nur, wenn wir Termine unserer Klient*innen begleiten oder eine Besprechung zwischen uns und dem Jugendamt oder Verfahrensbeiständ*innen proaktiv anregen. Ich erlebe es oft, dass, trotz der monatelangen Ankündigung des Gerichtstermins erst wenige Tage vorher die*der Verfahrensbeistand*in nochmal kurz das Kind sehen will. Darauf reagiere ich allergisch! Nochmal kurz schnell das Kind sehen … Es muss doch erstmal eine Beziehung aufgebaut werden, um das Kind erleben zu können und die Wünsche des Kindes zu erfahren! Wir als Mitarbeiterinnen und Vertrauenspersonen für die Frauen* und Kinder werden im Sorge- und Umgangsverfahren nicht direkt befragt, die pädagogische Vertretung vor Gericht ist die Sachbearbeiterin aus dem Jugendamt. Nur über die Anwält*in, die die betroffene Frau* vertritt, können wir unsere Expertise einbringen. Eher selten befragt uns ein*e Verfahrensbeistand*in oder bittet um eine fachliche Einschätzung von den Fachkräften aus den Beratungsstellen oder Schutzeinrichtungen. Was ich mir wünsche ist, dass unsere Erfahrungen in der Begleitung der Frauen und ihrer Kinder mehr in die Betrachtung der Verfahrensbeistände einbezogen werden. Leider findet das zu selten statt. Kinder erspüren, vor allem dann, wenn sie häusliche Gewalt erfahren haben, Haltungen und Bedürfnisse von Erwachsenen. Ihre Antennen sind enorm ausgefahren, wahrscheinlich sind es letztlich Überlebensstrategien der Kinder und Jugendlichen, die diese in ihrer gewaltvollen Umgebung erlernen mussten. Das heißt, mit diesem Wissen, frage ich mich umso mehr, wie eine kurze Befragung und Beobachtung des Kindes durch Verfahrensbeistände aussagekräftig sein kann, wenn die Haltung von Verfahrensbeständ*innen allzu häufig ist, dass eine 50:50-Aufteilung der Betreuungszeit durch Vater und Mutter das Richtige fürs Wohl des Kindes sei. Genauso wenig ist es aussagekräftig, wenn sich Beistände das Spielverhalten des Kindes im Beisein des Vaters mal kurz anschauen.
Ende März wäre eigentlich die Netzwerkkonferenz der Koordinierungsstelle Netzwerk für Kinderschutz und Frühe Hilfen geplant, die leider ausfällt. Warum war euch das Thema „Hammer-Studie“ auf so einer Netzwerkkonferenz wichtig?
Carola:
Ja, so reißerisch diese Studie auch sein mag, sich mit dieser zu beschäftigen, wäre eine riesige Chance für eine dringend notwendige interdisziplinäre Diskussion. Viele Punkte dieser Studie werden auch strukturell in unserer Arbeit hier im Landkreis immer wieder deutlich. In dem Netzwerk „Kinderschutz und frühe Hilfen“ gemeinsam mit dem Netzwerk „Häusliche Gewalt“ müssen wir uns gemeinsam die Frage stellen, welches Fachwissen und Haltung eine Person braucht, die in Sorge- und Umgangsfragen über die Erziehungsfähigkeit der Eltern mitentscheidet. Wir müssen uns weiter fragen, wie ein faktischer Eindruck der familiären Situation entstehen kann und welche Personen unbedingt zusammenarbeiten müssen, damit das möglich ist. Vor allem muss die Istanbul Konvention – also die Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt — von allen Instanzen als bindend begriffen werden.
In der Familienberatungsstelle des Wegweiser e. V. arbeiten die Berater*innen meistens mit dem Ziel, dass Vater und Mutter sich nach einer Trennung möglichst gütlich einigen und im besten Falle beide Elternteile zufriedenstellend am Leben des Kindes teilhaben können. Was passiert, wenn es zu einem Gewaltvorwurf kommt?
Carola:
Fachübergreifend kommen wir da auch immer wieder ins Gespräch, das bräuchte es wahrscheinlich noch mehr. Mitarbeiterinnen aus der Erziehungs- und Familienberatungsstelle und dem Gewaltschutz sind zum Beispiel in der Arbeitsgruppe „Begleiteter Umgang“ aktiv. Dort sitzen verschiedene Disziplinen an einem Tisch: Richter*innen, Anwält*innen, Vertreterinnen aus dem Gewaltschutzteam, Mitarbeiter*innen aus der Familien- und Erziehungsberatungsstelle und die Täterberatungsstelle TRIADE e. V, um einen Leitfaden zum begleiteten Umgang im Sinne der Istanbul Konvention zu entwickeln. Ein Beispiel ist das Münchner Modell. Da müssen wir nicht das Rad im Landkreis neu erfinden, sondern es existiert schon ein gutes Modell, was an die Bedingungen des Landkreises Leipzig angepasst werden müsste. Daran sollten wir uns orientieren. Aber es ist ein langer Weg. Es müssen viele Türen geöffnet werden..