Der Kampf um Schutzräume

Hannah am Schreibtisch

Clau­dia Preuß im Inter­view mit Han­nah Sauerschell

Han­nah Sau­er­schell, Fach­be­reichs­lei­te­rin der Ambu­lan­ten Hil­fen zur Erzie­hung im Weg­wei­ser e. V. hat ziem­lich viel zu erzäh­len, kla­re State­ments und einen kla­ren Kri­tik­punkt.  

Han­nah, kannst du uns einen typi­schen Arbeits­all­tag einer Sozi­al­ar­bei­te­rin in dei­nem Team dar­stel­len? Wie geht es dei­nen Kol­le­gin­nen, wenn Sie unter­wegs sind, im Land­kreis Leip­zig?  

Mei­ne Kol­le­gin­nen und ich sind Ein­zel­kämp­fe­rin­nen. Wir arbei­ten fast immer allein. Wir stei­gen früh ins Auto und fah­ren zu unse­ren Kli­en­tin­nen, in den aller­meis­ten Fäl­len zu ihnen nach Hau­se. Wir unter­stüt­zen bei Fra­gen und Pro­ble­men in der Erzie­hung, beglei­ten ver­schie­de­ne büro­kra­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten und bespre­chen aller­hand ande­re The­men, die Fami­li­en in beson­de­ren Lebens­la­gen haben.

Wie kommt ihr zu den Fami­li­en?  

Manch­mal mel­den sich Fami­li­en direkt beim Jugend­amt, weil sie Unter­stüt­zung und Beglei­tung brau­chen. Dort stel­len die Eltern einen Antrag auf Hil­fen zur Erzie­hung, vor allem, um das Wohl und die alters­ge­rech­te Ent­wick­lung der Kin­der dau­er­haft zu gewähr­leis­ten. So kom­men wir dann ins Spiel. Im Auf­trag des Jugend­am­tes füh­ren wir die Hil­fe prak­tisch durch.

Oft ist es aber so, dass die Fami­li­en nicht von sich aus zu die­ser Hil­fe kom­men. Bei­spiels­wei­se wird eine Kin­der­wohl­ge­fähr­dung durch die Schu­le oder auch die Nach­barn ver­mu­tet. Das Jugend­amt prüft die Situa­ti­on und stellt – im Fal­le einer tat­säch­li­chen, laten­ten Gefähr­dungs­si­tua­ti­on – dann die Eltern vor die Wahl. Sie kön­nen die Hil­fen zur Erzie­hung anneh­men oder müs­sen ande­re Kon­se­quen­zen in Kauf neh­men – im schlimms­ten Fall die Anhö­rung beim Fami­li­en­ge­richt bei­spiels­wei­se mit der Fol­ge eines Sorgerechtsentzugs.

Wie siehst du als Fach­be­reichs­lei­te­rin die Arbeits­be­din­gun­gen für dein Team?  

Als sehr her­aus­for­dernd. Zum einen sind wir, wie schon gesagt, in der akti­ven Arbeit auf uns allein gestellt. Das heißt, wir sind auf unse­re eige­nen Fach­kennt­nis­se und Orga­ni­sa­ti­ons­ta­len­te ange­wie­sen. Die ande­re Her­aus­for­de­rung sehe ich in der Finan­zie­rung. In unse­rem Arbeits­feld wird die Leis­tung nach Fach­leis­tungs­stun­den abge­rech­net, die meist sehr knapp kal­ku­liert ist. Es gibt bestimm­te Zeit­span­nen für Doku­men­ta­ti­on oder Fahrzeit.

Außer­dem ist es auch her­aus­for­dernd, in den Fami­li­en unter­wegs zu sein, die teils in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen leben. Oft sind schon die Eltern in sehr schwie­ri­gen Ver­hält­nis­sen auf­ge­wach­sen und kön­nen des­halb auch an ihre Kin­der nur ein gewis­ses Maß an Lebens­qua­li­tät weitergeben. 

Kannst du uns einen Fall aus dei­ner Arbeit schil­dern, der dich beson­ders her­aus­ge­for­dert hat?  

Jeder Fall ist in irgend­ei­ner Hin­sicht her­aus­for­dernd. Aber einen habe ich von einer Kol­le­gin über­nom­men, der auch immer wie­der im Team bei uns The­ma war. Es ging um eine allein­er­zie­hen­de Mut­ter von zwei Kin­dern. Der Fami­li­en­va­ter war ver­bal aus­fal­lend und gewalt­tä­tig ihr gegen­über, trotz­dem konn­ten weder sie noch er wirk­lich von­ein­an­der las­sen.
Spä­ter kam es zu ver­ba­len Angrif­fen und Dro­hun­gen gegen mei­ne dama­li­ge Kol­le­gin. Dar­auf­hin war es nicht mehr mög­lich, die Ter­mi­ne in der Woh­nung abzu­hal­ten, da der Kin­des­va­ter auch unver­hofft ein­fach auf­tauch­te. Es gab kei­nen geschütz­ten Raum für die Arbeit mit der Mut­ter und den Kin­dern. Somit hiel­ten wir die Ter­mi­ne in Cafés oder ande­ren öffent­li­chen Räu­men ab. Damit erhiel­ten wir aber auch kei­nen Ein­blick mehr in die Woh­nung, die zuneh­mend zu einer Gefähr­dung der Kin­der wur­de, da der Vater dort wei­ter­hin agier­te und das Wohn­um­feld nicht kind­ge­recht war. Schließ­lich führ­te eine Kin­des­wohl­ge­fähr­dungs­mel­dung dazu, dass das Jugend­amt über den Zustand der Woh­nung auf­merk­sam wur­de und so wur­de ent­schie­den, die Kin­der vor­über­ge­hend fremd unter­zu­brin­gen, bis die Kin­des­mut­ter ihre eige­nen Ange­le­gen­hei­ten gere­gelt hat­te und sich sta­bil vom Kin­des­va­ter abgren­zen konnte. 

Der­zei­ti­ge Ein­rich­tung der Mitarberiter*innen-Küche im Bera­tungs­raum der Ambu­lan­ten Hilfen 

Wir sit­zen jetzt in einer 3‑Zim­mer-Woh­nung in Bor­na, die spe­zi­ell für eure Arbeit vor weni­gen Mona­ten ange­mie­tet wur­de. War dein geschil­der­ter Fall eine Initi­al­zün­dung für die Anmie­tung der Räu­me?  

Unter ande­rem. Es war kein Zustand. Wir brauch­ten drin­gend einen geschütz­ten Raum.
Dafür gibt es vie­le Grün­de: zum einen, weil im Umfeld der Woh­nung und der Fami­lie jemand ist, der der Fami­lie nicht gut­tut oder uns selbst bedroht. Oder auch, wenn wir Gesprä­che mit getrenn­ten Eltern durch­füh­ren und es für den einen Part schwie­rig ist, immer in die Woh­nung des Expartners/der Expart­ne­rin zu gehen. Und auch Hil­fe­plan­ge­sprä­che mit den Fami­li­en und dem Jugend­amt haben hier schon statt­ge­fun­den, da auch das Jugend­amt mit feh­len­den Räum­lich­kei­ten in Bor­na zu kämp­fen hat.
Aber wir brauch­ten auch eine Anlauf­stel­le für uns als Team, für unse­re Team­sit­zun­gen oder um Büro­ar­beit zu machen. Vor­her haben die Kol­le­gin­nen ihre Büro­ar­beit oft im Auto erle­digt oder zu Hau­se. Und pro­ble­ma­tisch sind bei unse­rer Arbeit manch­mal auch die nor­mals­ten Din­ge der Welt, wie zum Bei­spiel der Toi­let­ten­gang. In den Fami­li­en die Toi­let­ten zu benut­zen, ist vie­len Kol­le­gin­nen unan­ge­nehm – nicht nur wegen der Ansprü­che an Hygie­ne und Sauberkeit. 

Wie wird die­ser Raum finan­ziert und wel­che Insti­tu­tio­nen haben euch dabei unter­stützt? 

Die Finan­zie­rung läuft über das Jugend­amt, jetzt. Wir müs­sen aber jedes Jahr einen Fol­ge­an­trag stel­len, sodass wir kei­ne Sicher­heit haben, die­sen Schutz­raum dau­er­haft auf­recht erhal­ten zu kön­nen. Und dank­bar sind wir auch dem Ver­mie­ter, der uns am Anfang zu sehr güns­ti­gen Bedin­gun­gen hier die Woh­nung über­las­sen hat

Was wür­dest du dir für die Zukunft wün­schen, damit eure Arbeit sinn­stif­tend und erfolg­reich
geleis­tet wer­den kann? 

Tat­säch­lich brau­chen wir ein neu­es Finan­zie­rungs­mo­dell. Die Zei­ten sind so knapp bemes­sen, dass teils unse­re Fach­lich­keit dar­un­ter lei­det. Ich wür­de mir wün­schen, dass wir nicht mehr um jeden Cent kämp­fen müs­sen. Die Aus­stat­tung die­ses Schutz­rau­mes zum Bei­spiel wur­de nicht bezahlt, son­dern muss­te über Spen­den­gel­der gene­riert wer­den. Dafür dan­ken wir der hier ansäs­si­gen DOW. Wir arbei­ten im sozia­len Bereich, drau­ßen auf der Stra­ße und arbei­ten für das Wohl von Kin­dern und Fami­li­en. Wie kann es sein, dass genau sol­che wich­ti­gen Schutz­räu­me und Arbeits­räu­me so hart erkämpft wer­den müs­sen und zusätz­lich durch Spen­den finan­ziert wer­den müs­sen? Wir leis­ten jeden Tag sehr her­aus­for­dern­de Arbeit und da dann immer noch für gute Bedin­gun­gen kämp­fen zu müs­sen ist sehr anstrengend.