Soziale Arbeit ohne Sprache
Die Kollegin wirkt angespannt und berichtet, dass es einfach gerade zu viele Herausforderungen sind. Sie erzählte mir, dass sie gestern in einer Klasse eine Stunde „Soziales Lernen“ unterrichtet hat. Alle Kids saßen im Stuhlkreis, es wird laut, es gibt Streit, die Kids prügeln, verletzen sich, erst verbal, dann körperlich — aber meine Kollegin versteht nichts. Sie weiß nicht, worum es geht, in diesem Konflikt, weil die Kids in ihrer Muttersprache streiten. Persisch, Hebräisch, Arabisch, Türkisch, Kurdisch…?
Hannah Sauerschell, Teamleiterin der Ambulanten Hilfen zur Erziehung, berichtet am Telefon von der Arbeit mit Personen, die nur wenig Deutsch sprechen. „Manchmal geht es gut auf Englisch“, sagt sie. Der Lernansatz der Sozialpädagogischen Familienhilfe ist aber nicht, all das komplizierte Bürokratische für die Familie zu erledigen, sondern sie zu ermächtigen, diese Aufgaben selbstständig zu tun. An dieser Stelle verändert sich die fachliche und helfende Rolle der Familienhelferin. „Selbst wenn die Familien ein gutes und verständliches Deutsch sprechen, sind die Anträge und Formulare der Behörden unglaublich kompliziert.“
Derzeit sind ca. 10% der SPFH-Fälle, Fälle mit Migrationshintergrund. Das ist nicht viel, weil der Aspekt der Sprachbarriere bei der Übernahme eines Falles auch bei uns im Team einer genaueren Überlegung bedarf. Im Team SPFH können zwar die Dolmetscherkosten komplikationslos abrechnet werden, aber die Arbeit mit einer dolmetschenden Fachkraft ist anders. Gespräche brauchen eine andere Struktur und viel mehr Zeit, die auch in den Fachstandards mitgedacht werden muss.
Ich erinnere mich an einen Besuch der Migrationsberatung von Mosaik e. V. in unserem Team Gewaltschutz. Die wenigsten Fachkräfte in der sozialen Arbeit bringen eine geschulte Professionalität in der Beratung mit Dolmetschenden mit. Da gibt es viele Fallstricke für Übersetzende und auch seitens der Beraterinnen. Wie kann eine Beratung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt ablaufen, ohne dass eine dritte Person, in diesem Fall die Dolmetschende zu sehr in die vertraulichsten Offenbarungen involviert wird oder gar emotional beteiligt wird? Und wie ergeht es einer Betroffenen, wenn Sie sich mehreren Personen offenbaren muss, statt einer einzigen Vertrauensperson? Welche speziellen Softskills muss die dolmetschende Person in einer so spezialisierten Beratung mitbringen und wie viel Zeit brauchen die Beraterinnen, um eine perfekte pschosozial-geschulte und dolmetschende Person zu finden?
Von denen lernen, die eher da waren!
Nach einigen Rundmails im Team gibt es dann doch noch eine Rückmeldung zur Frage: Welche Lösungen oder welche hilfreichen Werkzeuge könnten denn im System Schule und im soziodemografisch-migrantisch geprägten Arbeitsfeld helfen, um mit den Sprachbarrieren besser zurecht zukommen? Die aufwendige und hochschwellige Organisation von Dolmetschenden wird viel zu oft umgangen. Es braucht ein niedrigschwelliges Patenschaftsprogramm für Eltern mit Migrationshintergrund, sagen die Einen — “Warum stellt ihr denn keine Fachkräfte ein, die mehrere Sprachen sprechen” fragen die Anderen.
Und was ist mit migrantischen Selbstorganisationen im Landkreis Leipzig? Welche Unterstützung und welche Perspektiven oder gar Hilfestellungen und Anreize für Vereinsgründungen bekommen sie, wenn sie sich in die landkreisweiten Vereinsstrukturen einsortieren wollen? Werden Organisationen wie DAMIGRA e. V. angefragt, wenn es um die Vergabe von integrativen Maßnahmen geht? Auf jeden Fall möchten wir den Mangel an Migrantenorganisationen im Landkreis Leipzig laut verkünden. Wenn ihr also engagierte Personen kennt, wir vermitteln gern! Auch das sind Perspektiven!
Dass Patenschaftsprogramme Wirkung haben, zeigt die Wirkungsanalyse zum Patenschaftsprogramm „Menschen stärken Menschen“ des Bundesfamilienministeriums und Programme gibt es doch auch schon viele, wie sie zum Beispiel die Stiftung Bildung umsetzt.
Kurz ging nochmal die Tür auf. Meine Kollegin, die mir die Antwort aus dem Team in ein paar Sätzen mitteilte, streckte nochmal kurz den Kopf durch die Tür und meinte: “Aber, Du — das bringt doch eh alles nichts!”. Ich erstarrte kurz vor Schreck und dachte dann: “Stimmt, solche Gedanken habe ich auch manchmal.”