Gibts den wirklich?
Die größte Lüge, die Eltern ihren Kindern unterjubeln
Sylvia Karen Will, Fachbereichsleitung der Familien- und Erziehungsberatungsstelle, erinnert sich an den Tag, als sie schmerzlich feststellte, dass es den Weihnachtsmann in Wirklichkeit gar nicht gibt. Sie glaubte, jahrelang belogen worden zu sein. Sylvia spricht mit mir über die aufgeladene und erwartungsvolle Weihnachtszeit und über tradierte Geschichten, die über Generationen weiter gegeben und ausgeschmückt werden, sich festigen und kaum noch hinterfragt werden.
Sylvia Karen Will ist Mutter von zwei Kindern, Diplom-Psychologin und Familientherapeutin mit Verstrickungen ins Erzgebirge, so dass sie am Heiligabend, um keine Liebe dieser Welt auf die Weihnachtsgans verzichten will. Soll heißen: sie hat schon diese Festlichkeiten um Weihnachten irgendwie ganz gern.
„Bei mir war’s so, dass ich für den Weihnachtsmann ein Bild gemalt habe. Ich war vielleicht 6 Jahre alt. Nach einigen Wochen habe ich das Bild in der Küche auf dem Schrank gefunden und ich war völlig irritiert. Doch meine Mutter verteidigte die Geschichte vom Weihnachtsmann mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten, wie dieses Papier mittels weihnachtlichem Hokuspokus auf diesen Schrank gekommen sei. Ich wusste, irgendwas läuft hier schief – und fand das ganz schlimm. Ich hatte das Gefühl von vorn bis hinten belogen worden zu sein, doch meine Mutter ließ von der Lüge nicht ab. Ich hatte das Gefühl für dumm verkauft zu werden.“
Was fühlen Kinder, wenn diese Lüge dann aufgedeckt wird?
Wieso bringen wir unseren Kindern bei: „Du sollst nicht lügen!“ aber beim Weihnachtsmann ist es völlig in Ordnung? Was macht diese über Jahre aufrechterhaltene Mega-Story mit dem Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern? Sylvia argumentiert aus ihrer Erfahrung mit den eigenen Kindern und aus den Gesprächen mit Freund*innen und Verwandten:
„Als ich dann selbst Kinder hatte, stand für mich von Anfang an fest, diese Lüge erzähle ich meinen Kindern nicht. Diese Geschichte werde ich nicht mittragen. Und wenn ich dann mit Familienangehörigen und anderen Erwachsenen darüber gesprochen habe, war die Empörung meist sehr groß. „Wir nehmen den Kindern damit den Zauber der Kindheit!“ war meist die Begründung der Erwachsenen. Aber ich frage mich dann, warum keine andere Geschichte in unserer Kultur so vehement und mit so viel Aufwand zur Realität erklärt wird. Kein Elternteil erzählt den Kindern, dass Einhörner wirklich existieren und trotzdem ist es für Kinder etwas ganz Reales und sie spielen mit den Figuren, als würde es sie wirklich geben.“
Ich habe meinen Sohn auch gefragt, ob er sich an den Moment erinnert, als die Weihnachtsmann-Lüge aufgeflogen ist. Für ihn war es eher ein schleichender Prozess, glaube ich. Vor allem als die große Schwester plötzlich anfing, Geschenke für Weihnachten zu basteln und er das richtig komisch fand, wieso sie sich ausgerechnet dieser Aufgabe hingibt. Jahr für Jahr bröckelte ein Zacken aus dem Konstrukt der Unwahrheit. Für ihn war es kein Schreckmoment, sagt er. Aber beide Kinder bekräftigten mir sehr deutlich, dass sie den als Weihnachtsmann verkleideten Erwachsenen als absolut irritierend, beängstigend und verstörend empfanden. Da war in unserem vertrauten Familienkreis plötzlich jemand, der nicht dazugehörte, ein Fremder ohne erkennbares Gesicht, den sie nicht kannten. An diesen einmaligen Auftritt im Hause der Großeltern erinnern sich beide ganz genau – wie ein bisschen mit Schrecken!
Sylvia erklärte ihren Kindern von Anfang an, dass die Erwachsenen die Geschenke besorgen und der Weihnachtsmann genau wie der Nikolaus und der Osterhase Geschichten sind, die Eltern ihren Kindern gerne erzählen. Das sorgte natürlich im Familienkreis für Empörung — allerdings nicht bei den Kindern sondern bei den Großeltern. Sie wirkten traurig, aber vor allem verunsichert, wie sie den Kindern begegnen sollten ohne diese Weihnachtsgeschichte im Gepäck und versuchten noch einige Jahre lang erfolglos die Kinder von der Story zu überzeugen. Erfolg hatten sie damit allerdings nicht. Später erkannten auch die Großeltern den Vorteil der Wahrheit. Die Geschenke konnten den Gebenden nämlich zugeordnet werden, sie bekamen dafür Anerkennung und Dankbarkeit. Die Kinder erkannten die Schenkenden als Menschen, die ihnen nahestehen, die sich Gedanken um sie machen und mit Freude und Liebe etwas zu geben haben.
Die magische Phase braucht keine Beispielgeschichten
Aber warum spielen denn nun Erwachsene dieses Spiel mit dem Weihnachtsmann schon so lange mit? Sylvia meint, es sind die Erwachsenen, die der fehlenden Möglichkeit nachtrauern, die Mär des Weihnachtsmanns weiterzuspinnen und damit sich selbst um „die Magie der Weihnacht“ betrogen sehen. Kleine Kinder befinden sich in der sogenannten „magischen Phase“, die meist im Verlauf des dritten Lebensjahres beginnt, in welcher sie sich sowieso die verrücktesten Fantasiegeschichten ausdenken. Sie glauben an Hexen, Monster und Geister, aber auch an den Weihnachtsmann, das Christkind und den Osterhasen — von ganz allein. Wenn sie es möchten, dann gibt es diese Figuren in ihrer kindlichen Vorstellung alle sowieso und in echt! Es braucht dafür die Erwachsenen nicht, die diese Fantasie noch zusätzlich füttern oder mit Unverständnis reagieren, wie es umgekehrt im Fall von bösen Geistern und Monstern unterm Bett manchmal der Fall ist. Bei den meisten Kindern gewinnt etwa ab dem fünften Lebensjahr das „realistische Denken“ allmählich die Oberhand und damit kann man ihnen auch nichts mehr vormachen.
Die Weihnachtszeit birgt also allerhand ungewollte Erkenntnisse für Kinder und oft auch für Erwachsene. Es ist ratsam die Stimmung nicht allzu heftig aufzuladen. Genießen Sie die dunkle Jahreszeit im Kreise Ihrer Liebsten mit viel gemeinsamer und bindungsstärkender Zeit und versuchen Sie große Enttäuschung mittels guter Kommunikation und viel Zuhören zu vermeiden.