Perspektiven ukrainischer Frauen – hier und dort!

Junge Frau vor Weltkarte

Familie Shanygina wohnt in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja

Swit­la­na arbei­tet im Büro in Böh­len in der Fami­li­en- und Erzie­hungs­be­ra­tungs­stel­le. Sie spricht ukrai­nisch und rus­sisch, flie­ßend — Rus­sisch ist ihre Mut­ter­spra­che. Vor 7 Jah­ren kam sie mit ihrem Mann und der damals klei­nen Toch­ter Tali­na nach Deutsch­land, weil sie sich hier eine neue Zukunft auf­bau­en woll­ten. Auf­ge­wach­sen ist Svitla­na in einer Klein­stadt namens Pav­lo­grad der Nähe von Dne­pro­pe­trowsk im Zen­trum der Ukrai­ne. Ihre Schwes­ter und ihre Mut­ter leben bis jetzt noch dort unweit des AKWs Saporischschja.

Svitla­na Shanygina

Als am 24. Febru­ar 2022 Putin mit sei­nen Trup­pen in die Ukrai­ne ein­mar­schier­te, saß Svitla­na, eigent­lich wie immer – aber irgend­wie viel stil­ler vor ihrem Com­pu­ter im Büro. Auf die Fra­ge, was mit ihrer Fami­lie ist, wie es ihnen geht und ob sie in Sicher­heit sind, zit­ter­te ihre Stim­me, Trä­nen flos­sen – unge­wiss ist es. Lan­ge ver­lief die Front in der Ost­ukrai­ne und im Süden. Doch seit eini­gen Wochen ver­la­gert sich die Kriegs­front wei­ter ins Lan­des­in­ne­re. Drei­ßig Kilo­me­ter ist das Atom­kraft­werk Sapo­rischschja vom Wohn­ort der Schwes­ter und der Mut­ter entfernt.

Die Lei­tung des Kraft­werks wur­de im März von einem rus­si­schen Mili­tär­kom­man­dan­ten über­nom­men, betrie­ben wird es wei­ter­hin vom loka­len Per­so­nal. Die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le der Nukle­ar­an­la­ge zur Außen­welt sind gekappt, immer wie­der bekämp­fen sich ukrai­ni­sche Patriot*innen und rus­si­sche Besat­zungs­mäch­te. Das AKW Gelän­de ist ver­mint, die Gefahr ist hoch, die Men­schen haben Angst vor einer nuklea­ren Katastrophe.

Svitla­nas Schwes­ter wird in eini­gen Tagen ihre Hei­mat ver­las­sen, nach­dem sie ihren Job in der Ukrai­ne gekün­digt hat, die Woh­nung auf­ge­ge­ben hat und das nötigs­te zusam­men­ge­packt hat. Alle zusam­men wer­den in der klei­nen Woh­nung der Fami­lie in Regis Breit­in­gen woh­nen. Keine*r weiß wie lan­ge. Keine*r weiß, ob das alles gut geht, ob die Mut­ter noch nach­kom­men wird? Die Unge­wiss­heit und die Angst, um das Leben der Mut­ter sind gegenwärtig. 

Tali­na hät­te sich ihre Jugend­wei­he sicher­lich auch anders vor­ge­stellt, so wie eben alle Fami­li­en in Frie­dens­zei­ten die Jugend­wei­he als gro­ßes Fami­li­en­fest fei­ern. Die jun­gen Geweih­ten neh­men die Finanz­sprit­zen der Ver­wandt­schaft dan­kend ent­ge­gen. Und umso mehr Gäs­te — umso höher die Aus­beu­te. Doch für die Groß­fa­mi­lie Shany­gi­na mit Tan­te und Groß­mutter ist die­ses Fest undenk­bar. Spon­tan über­neh­men wir eine klei­ne Sam­mel­ak­ti­on für Tali­na — eine klei­ne Ges­te, die alles rings­rum nicht unge­sche­hen macht. 

„Der Krieg muss auf­hö­ren, egal wie — nur schnell, damit das Ster­ben ein Ende hat!“ das wünscht sich Svitla­na. Sie hält nichts von dem Patrio­tis­mus der Ukrainer*innen, von Waf­fen­lie­fe­run­gen aus Deutsch­land – das sind kriegs­ver­län­gern­de Maß­nah­men, die noch mehr Men­schen­le­ben kos­ten. Swe­ta will Frie­den und Ruhe. Sie will, dass ihre Lands­leu­te und ihre Schwes­ter bald wie­der zurück­keh­ren kön­nen.
 

Ich bin eine starke Frau, nein danke!

Ole­na ist ukrai­ni­sche Femi­nis­tin durch und durch. Sie ist Anfang 20, Patrio­tin, Geo­gra­fie-Stu­den­tin, lie­ben­de Schwes­ter und kon­se­quen­te kämp­fe­ri­sche Opti­mis­tin. Sie spricht kla­re Wor­te und ver­sprüht ein uner­schüt­ter­li­ches Selbst­be­wusst­sein. Ein biss­chen hart auch! Ich tref­fe Sie am 10. Juni in Leip­zig, sie und ihre Freun­din aus Kiew. Bei­de woh­nen 10 Tage im Zim­mer mei­ner Tochter.

Ole­na Kosjanowa

Anfang August tref­fe ich Ole­na ein wei­te­res Mal über einen Video-Call, wegen die­ses Arti­kels hier und natür­lich auch weil ich sie sehen will und wis­sen will, wie es ihr geht. Sie wirkt müde, trotz­dem ist ihre Stim­me klar und bestimmt. Sie sitzt in ihrem Zim­mer hin­ter der ukrai­ni­schen Flag­ge, neben ihr die gigan­ti­sche Welt­kar­te. Wäh­rend sie spricht, habe ich irgend­wie Angst, dass gleich der Bild­schirm wackelt und die Ver­bin­dung abbricht und ich dann nichts mehr von ihr höre. 

Ob sie mit dem neu gekauf­ten Ford Escord, Bau­jahr 2000, wes­we­gen sie im Juni nach Leip­zig kam, gut in Myko­la­jiw ange­kom­men ist, will ich wis­sen und wie es jetzt in Myko­la­jiw ist. Sie sagt, die Situa­ti­on ist jetzt gefähr­li­cher als vor ihrer Flucht. 

zwei Frauen an der geöffneten Autotür, schwarzes Auto
Ole­na und Kate, stol­ze Besit­ze­rin­nen eines neu­en Gebraucht­wa­gens, der sie von Leip­zig zurück in die Ukrai­ne bringt. 

Am 15. April 2022 flie­hen Ole­na und ihre Schwes­ter mit ihren bei­den Kin­dern das ers­te Mal aus der Stadt Rich­tung Ungarn. Eine Bom­be, nicht weit von ihrem Haus trifft ein Ver­wal­tungs­ge­bäu­de und tötet 15 Frau­en, Öko­nom­in­nen, Kolleg*innen ihrer Mut­ter. Die Angst, dass jemand zu Tode kommt, läßt sie schnell die Kof­fer packen. Sie kom­men vor­erst in Ungarn im Haus einer weit­läu­fig Bekann­ten mit nor­we­gi­schen Wur­zeln unter. 

Jetzt – heu­te fal­len wie­der jede Nacht Bom­ben in Myko­la­jiew. Kate, die Schwes­ter von Ole­na schläft mit den bei­den Kin­dern seit Wochen fast jede Nacht im Kel­ler, sie ver­brin­gen Stun­den in fens­ter­lo­sen Räu­men – ohne Son­nen­licht. Heu­te, Don­ners­tag, den 04. August warnt die ukrai­ni­sche Regie­rung vor sehr har­ten Gefech­ten in ein bis zwei Tagen.

“War­um seid ihr noch dort?”, will ich wis­sen. “War­um geht ihr nicht?” Es ist gefähr­lich! Ole­nas Schwes­ter Kate liebt ihren Mann. Sie sagt, es ist bes­ser mit mei­nem Mann zu ster­ben, als ohne ihn zu sein. Sie will ihn nicht zurück­las­sen, sie will bei ihm sein — für ihn da sein. Ole­nas Mut­ter hat ihre Arbeit ver­lo­ren, weil die gesam­te Infra­struk­tur zer­stört ist. Strom- und Was­ser­ver­sor­gungs­zen­tren, Schu­len und Ein­kaufs­zen­tren – alles ist kaputt– aber die Mut­ter will blei­ben – bei ihren Töch­tern und ihren Enkel­kin­dern. Der Groß­teil von Ole­nas Freun­den sind Jungs, sie dür­fen nicht weg. Des­halb blei­ben sie – vor­erst alle gemein­sam und har­ren aus. 

Als Ole­na im Juni das 5‑stöckige Miets­haus in Leip­zig betrat, sag­te sie, als ich ihr anbot, ihre Kof­fer zu tra­gen “I’m a strong woman, no — thank you” Ich woh­ne im Dach­ge­schoss! Ich bin beein­druckt von ihrer Sou­ve­rä­ni­tät und freue mich über ihren Widerspruchsgeist. 

Wäh­rend des Vide­os-Calls wer­de ich immer betrof­fe­ner — die­ser Krieg macht mich unend­lich trau­rig. Am Ende des Gesprächs möch­te sie mir aber noch eine Sache erzäh­len, ihre Augen glän­zen, das soll ich unbe­dingt auf­schrei­ben, bit­tet sie mich: 

Ole­na mit Molo­tov Cock­tail made by “Rus­sia Vod­ka”. Zitat: “We hit Rus­si­an tanks with rus­si­an vodka!”

„Ich war am 2. Kriegs­tag, am Nach­mit­tag, auf dem Weg ins Vol­un­teer Cen­ter, nur 5 Minu­ten weg von uns zu Hau­se. Es war dun­kel und die Stra­ßen waren leer, Frau­en und Kin­der waren in den Luft­schutz­kel­lern oder den Kel­lern ihrer Häu­ser. Als ich im Vol­un­teer Cen­ter ankam, war ich über­wäl­tigt. Da waren so vie­le Men­schen. Män­ner, die ver­such­ten Waf­fen zu fin­den und ganz vie­le älte­re Frau­en, die Molo­tow Cock­tails mix­ten! Sie waren so ver­dammt wütend und so vol­ler Ener­gie! Vor dem Krieg sag­ten alle Ukrainer*innen, Myko­la­jiew wäre eine rus­si­sche Stadt, es gibt so vie­le Men­schen, die hier Rus­sisch spre­chen. Wir haben alle gedacht, dass, wenn Mykol­la­jew ange­grif­fen wird, wird die Bevöl­ke­rung die rus­si­sche Sei­te unter­stüt­zen.
Aber so war es nicht! Ich war beein­druckt, über­rascht und stolz, wie vie­le Frau­en bereit waren zu kämp­fen und ihr Land zu ver­tei­di­gen. Ich bin stolz auf unse­re wür­de­vol­len ukrai­ni­schen Frauen.“

Frau Sulyman — wichtigste Vermittlerin in der ukrainischen Flüchtslingsfrage für die Stadt Borna

Oksa­na Sulyman

Irpin ist die Part­ner­stadt von Bor­na in der Ukrai­ne und der lang­jäh­ri­ge Lebens­mit­tel­punkt für Oksa­na Suly­man. Jetzt ist sie Ange­stell­te der Stadt Bor­na und Beauf­trag­te für Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne. Ich tref­fe mich mit Oksa­na in Bor­na, um über ihre Arbeit und die Situa­ti­on der Frau­en hier und dort zu sprechen. 

Wie war die Flucht aus Irpin? 

Ich bin zuerst in die Ost­ukrai­ne geflüch­tet. Dort war ich bei Freun­den mehr als 2 Wochen und habe dort die Flucht der Frau­en vor dem Angriff koor­di­niert. Wir haben auch Part­ner­städ­te in Lett­land und Polen, neben Bor­na. Ich habe dann per Tele­fon ver­sucht die Frau­en zu ver­mit­teln, in die­se Part­ner­städ­te, wel­che Züge müs­sen sie neh­men und wie müs­sen sie fah­ren. Wir haben auch Bus­se orga­ni­siert bis zur pol­ni­schen Gren­ze und haben dann vie­le Frau­en aus Irpin nach Aly­tus in Lett­land bis zur pol­ni­schen Gren­ze orga­ni­siert. Simo­ne Lütt­ke hat dann ange­ru­fen und mich nach Bor­na geholt, weil sie hier in Bor­na Unter­stüt­zung brauchte.

Wie ist die Situa­ti­on?
“In Irpin sind fast 40.000 Ein­woh­ner eva­ku­iert. Alle Frau­en* sind mit ihren Kin­dern geflüch­tet. Nur sehr weni­ge Bewohner*innen, vor­ran­gig Men­schen, die in pri­va­ten Häu­sern woh­nen, woll­ten nicht weg, trotz der War­nung des ukrai­ni­schen Militärs. […]”

“Die Besat­zungs­zo­ne ist über­haupt nicht unter Kon­trol­le. Da machen die Rus­sen was sie wol­len. Und alle die­se Ver­ge­wal­ti­gun­gen. Das ist Wahn­sinn, was sie mit alten, jun­gen und ganz jun­gen Frau­en und Kin­dern gemacht haben.”

Kön­nen sie sich vor­stel­len, was wir im Bereich Gewalt­schutz tun kön­nen? Wie kön­nen wir noch helfen?

“Soviel wie ich weiß, gibt es schon Exper­ti­se. Das machen mei­nes Wis­sens Leu­te aus Kiew. Ich den­ke, die Frau­en brau­chen psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe und Reha­bi­li­ta­ti­on. Auch für die Kin­der wäre es schön, wenn sie sich irgend­wo erho­len kön­nen. Aber ich per­sön­lich weiß nicht, wie die Kin­der wei­ter leben kön­nen. Vie­le Frau­en sind wegen der Ver­ge­wal­ti­gun­gen gestor­ben, weil es nicht nur eine ein­ma­li­ge Sache war [… ]”

“Wir haben in Irpin die Abtei­lung, die für Fami­li­en- und Kin­der­schutz zustän­dig ist. Zur Zeit sind 16.000 Fami­li­en in Irpin ohne Woh­nung. Die Häu­ser sind alle zer­stört. Seit Ende April ist die Stadt befreit von der Rus­si­schen Besat­zung. Aber es gibt immer wie­der die Gefahr, dass sie zurück kom­men. Irpin liegt in der Nähe von Kiew, das ist nur 7 km ent­fernt. Damals am Anfang woll­ten die Rus­sen inner­halb von 3 Tagen Kiew erobern, aber sie haben es nicht geschafft. Irpin war wie ein Schutz­schild. Des­halb sind über 70 Pro­zent der Infra­struk­tur und der Häu­ser zer­stört. Ich muss mich erkun­di­gen, ob das Frau­en­schutz­haus in Irpin noch steht. Damals, als ich dort gewohnt habe, haben dort ca. 20 Frau­en gelebt.”

Mitt­ler­wei­le haben wir einen Kon­takt ins Frau­en­schutz­haus nach Irpin. Das Schutz­haus ist Eigen­tum der Stadt Irpin. Alle Mitarbeiter*innen waren vor dem Krieg als ehren­amt­li­che Helfer*innen beschäf­tigt, bis jetzt haben wir noch kei­ne Ant­wort, ob das Haus noch steht, wie hoch der Grad der Zer­stö­rung im Haus ist und wel­che Orga­ni­sa­ti­on aus Kiew für die trau­ma­ti­sier­ten Frau­en vor Ort psy­cho­lo­gi­sche und trau­ma­the­ra­peu­ti­sche Hil­fen anbieten. 

Wut und Ohnmacht — das Fazit!

In Kriegs­zei­ten sind Frau­en beson­ders schutz­los, denn sie sind nicht nur krie­ge­ri­scher Gewalt aus­ge­setzt, son­dern zusätz­lich patri­ar­cha­ler und sexua­li­sier­ter Gewalt. Der weib­li­che Kör­per wird im Krieg zum Schlacht­feld, zu einem Ort der Kon­flikt­aus­tra­gung. Män­ner wer­den getö­tet, Frau­en miss­braucht und am Leben gelas­sen. Ver­ge­wal­ti­gung und sexu­el­ler Miss­brauch sind geno­zi­da­le Waf­fen und wer­den auch noch Gene­ra­tio­nen im Gesell­schafts­kör­per spür­bar sein. So erging es den Jesi­din­nen im Irak, den Frau­en in Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na und in Ruan­da — in fast jedem Scheiß­krieg die­ser Welt! 

Ole­na wür­de, so sag­te sie mir, auch mit der Waf­fe in der Hand, wie die ira­ki­schen Frau­en, als Käp­fe­rin mili­tä­risch ihr Land und ihre Fami­lie ver­tei­di­gen. Ole­nas Schwes­ter Kate unter­stützt im Hin­ter­land, ver­sorgt, pflegt und ver­arz­tet. Obwohl das Bild einer Frau mit Waf­fe in der Hand, mit kla­rem Blick und stol­zer Kör­per­hal­tung als Ide­al­ty­pus im femi­nis­ti­schen Kampf gegen Unge­rech­tig­keit, Patri­ar­chat und Aus­beu­tung roman­ti­siert ist, könn­te es doch sein, dass die kämp­fe­ri­schen Patriot*innen im rus­sisch-ukrain­schen Krieg auch nur Gespie­lin­nen einer patri­ar­cha­len Gewalt sind, oder?

Am Ende blei­ben Fra­ge­zei­chen. Ant­wor­ten sind im Dunst der kom­ple­xen und viel­schich­ti­gen Aspek­te der media­len Mei­nungs­ma­che, der Poli­tik und der geschicht­li­chen Ereig­nis­se tief ver­schüt­tet. Es bleibt zu wenig Zeit, um alle Aspek­te die­ses Krie­ges umfas­send zu recher­chie­ren. Wir hören den Men­schen zu und schrei­ben auf. Erst­mal nicht mehr! Jeg­li­che Bericht­erstat­tung in Kriegs­zei­ten ist par­tei­sch, habe ich gele­sen. Aber schwei­gen geht auch nicht! 

Datum: 04. August 2022
Autorin: Clau­dia Preuß