Sehnsucht nach dem Kind

Karolin, Praktikantin in der Familien- und Erziehungsberatung spricht mit mir über die Sorge, wenn Eltern den Kontakt zum Kind versuchen zu verhindern.

junge Frau, blond, lächelt

Karo­lin ist Stu­die­ren­de an der Uni­ver­si­tät in Jena im Mas­ter­stu­di­en­gang Päd­ago­gi­sche Psy­cho­lo­gie und spricht mit mir über “Bin­dungs­to­le­ranz”.

Ich erzäh­le von einem Fall aus dem Freun­des­kreis. Ehr­lich gesagt ken­ne ich nur Mar­kus*, die Ex-Part­ne­rin nicht bzw. nur flüch­tig aus der Schu­le mei­ner Toch­ter. Seit eini­ger Zeit schaue ich sie genau­er an, wenn sie auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te läuft und mich nickend im Vor­über­ge­hen grüßt. Ich ver­su­che gedank­lich zu ergrün­den, was pas­siert sein muss, dass sie ihrem Sohn den Umgang mit dem Vater ver­wehrt? Mar­kus* wohnt um die Ecke. Ich habe ihn bei einer Haus­par­ty ken­nen­ge­lernt, kurz nach der Tren­nung von ihr. Das war im Som­mer 2019. Er hat­te damals eine Lieb­schaft in Chem­nitz, war Hals über Kopf ver­knallt und tanz­te wild, aus­ge­las­sen und beflü­gelt, als wäre er 18 — und nicht 46. Ich hat­te irgend­wie den Ein­druck, als wür­de er etwas abschüt­teln. Im Coro­na-Jahr 2020 tra­fen wir uns wie­der auf einer die­ser Par­tys. Jetzt trank er nur noch, tanz­te nicht mehr und wirk­te frus­triert. Er platz­te förm­lich vor lau­ter Offen­ba­rungs­be­dürf­nis, als ich frag­te, wie es um sei­ne Bezie­hung und sei­ne Exbe­zie­hung ste­he. Seit er sei­nen Sohn mit nach Chem­nitz nahm und auf dem Rück­weg eine Rei­fen­pan­ne hat­te, dreht die Mut­ter förm­lich durch, sag­te er. Kin­des­wohl­ge­fähr­dung wird ihm vor­ge­wor­fen, weil der damals 9‑Jährige kei­nen Kin­der­sitz im Auto hat­te. Fort­an durf­te Lud­wig* nicht mehr bei Mar­kus* über­nach­ten. Die Tref­fen, die Vater und Sohn zusam­men­brin­gen, wer­den sel­te­ner, es gibt kein regel­mä­ßi­ges Umgangs­mo­dell und Mar­kus* muss regel­recht bet­teln, sei­nen Sohn sehen zu dür­fen. Letz­te Woche traf ich ihn erneut und erkun­dig­te mich nach dem Ver­hält­nis zu sei­nem Sohn. Er mein­te, er habe ihn seit über 18 Mona­ten nicht mehr gese­hen und habe schreck­li­che Sehn­sucht. Eine Eltern­be­ra­tung wur­de auf den Wunsch der Mut­ter abge­bro­chen und nach einer anwalt­li­chen Bera­tung zwei­felt Mar­kus* auch an dem Kin­des­wil­len, soll­te dies vor dem Fami­li­en­ge­richt abge­fragt wer­den. Das Ver­hält­nis zu sei­nem Sohn ist nach der lan­gen Zeit abge­kühlt und durch die feh­len­den gemein­sa­men Erleb­nis­se fühlt sich das Ver­hält­nis distan­ziert und fremd an. Mar­kus* weiß nicht, was die Mut­ter über ihn in Gegen­wart ihres Soh­nes spricht und was er für den Vater fühlt.

Karo­lin ana­ly­siert die Situa­ti­on und steckt mir den Begriff der Bin­dungs­to­le­ranz, den ich bis heu­te noch nicht kann­te. All­ge­mein bei einer Tren­nung spielt die eige­ne Ver­let­zung immer eine gro­ße Rol­le. Aus die­ser Ver­let­zung her­aus könn­te es sein, dass die Mut­ter ver­sucht den Kon­takt ein­zu­schrän­ken bzw. völ­lig zu blo­ckie­ren. Aber wir kön­nen bis hier­hin auch nur spe­ku­lie­ren. Viel­leicht war die Fahrt nach Chem­nitz auch mit ihr nicht abge­spro­chen? Zum Schlag­wort Bin­dungs­für­sor­ge, sagt Karo­lin, dafür braucht es zwei star­ke und für­sorg­li­che Eltern-Per­sön­lich­kei­ten, die in vol­lem Bewusst­sein, der wich­ti­gen und selbst­wert­stär­ken­den Bin­dungs­er­fah­rung han­deln. Denn gute und trag­fä­hi­ge Eltern-Kind-Bezie­hun­gen stär­ken die Kin­der in Tren­nungs­si­tua­tio­nen. Wenn es Eltern schaf­fen, auch nach der Tren­nung eine gute Bin­dungs­für­sor­ge zu leis­ten, weil sie bei­de wis­sen, dass der ande­re Eltern­teil dem gemein­sa­men Kind gut tut und es stärkt, dann spricht man von Bin­dungs­für­sor­ge. Wohl­wol­len, Ver­trau­en in die Kom­pe­ten­zen der ande­ren Eltern­per­son und die Lie­be zum Kind sind die Grund­la­ge. Die Fähig­keit, die eige­nen Ver­let­zun­gen aus der Eltern­be­zie­hung raus zu las­sen, ist für die meis­ten eine Her­aus­for­de­rung. Das Kind spürt, wenn die ande­re Eltern­per­son wert­ge­schätzt wird. Es geht dar­um, für das Kind, auch wenn es gera­de nicht mit dem Eltern­teil Zeit ver­bringt, die Ver­bin­dung zu hal­ten, indem Kon­takt­an­ge­bo­te gemacht wer­den. Zum Bei­spiel, wenn Papa dem Kind den Vor­schlag macht, eine Post­kar­te an die Mama zu schi­cken, wenn sie im Urlaub sind oder wenn Papa immer mal dar­an erin­nert, die Mama anzurufen.

Von Bin­dungs­to­le­ranz wird gespro­chen, wenn getrenn­te Eltern den Umgang und Kon­takt hin­neh­men, aber nicht son­der­lich för­dern. Das Wech­sel­mo­dell wird ent­spre­chend den Abspra­chen ein­ge­hal­ten, wich­ti­ge Ter­mi­ne des Kin­des kön­nen gemein­sam geplant und umge­setzt wer­den. Das Kind spürt eine Tren­nung deut­lich, da meis­tens nicht mehr viel über die ande­re Eltern­per­son gespro­chen wird. Es fällt einer oder bei­den Eltern­per­so­nen schwer, die Krän­kung der Tren­nung nicht in die Eltern­ar­beit mit­zu­neh­men. Meist dreht sich alles um die Abspra­chen und deren kon­se­quen­te Durch­füh­rung. Gesprä­che sind distan­ziert, die Über­ga­ben fin­den meist an der Tür statt, die Eltern­per­so­nen spre­chen wenig posi­tiv über den ande­ren Eltern­teil im Bei­sein des Kin­des. Bei der Bin­dungs­blo­cka­de setzt sich ein Eltern­teil aktiv dafür ein, dass der Kon­takt zum gemein­sa­men Kind nicht statt­fin­det. Um die beschrie­be­ne Situa­ti­on wirk­lich fair beur­tei­len zu kön­nen, müs­sen aber alle Per­spek­ti­ven gese­hen und umfas­send beleuch­tet wer­den. Eine vor­schnel­le Beur­tei­lung ist in die­sen Fäl­len oft nicht rich­tig. Des­halb ist es sehr scha­de, dass Lud­wigs Mut­ter die Bera­tung abge­bro­chen hat. Ihre Per­spek­ti­ve ist für die Beur­tei­lung des Falls uner­läss­lich. Ich weiß, dass Lud­wig einen klei­nen Bru­der mit Down-Syn­drom hat. Auch die­ser Fakt kann ein Indiz dafür sein, dass die Mut­ter eine spe­zi­el­le Bedürf­nis­la­ge als Allein­er­zie­hen­de hat, die beson­de­re Her­aus­for­de­run­gen bürgt. Mul­ti­kom­ple­xe Zusam­men­hän­ge und die genaue Sach­la­ge müs­sen mit viel Wohl­wol­len und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen für eine Beur­tei­lung der Situa­ti­on betrach­tet werden.

Karo­lin sagt dazu: “Es ist auf jeden Fall so, dass Ver­las­sen­wer­den immer Ängs­te trig­gert, die wir aus unse­rer Kind­heit ken­nen. Da spult sich ein Pro­gramm ab, was wir von unse­ren Eltern ler­nen bzw. gelernt haben.” Karo­lin hat im Prak­ti­kum bei uns gemerkt, dass das The­ma Bin­dung immer wie­der eine Rol­le spielt. Fast alle The­men in der Bera­tung las­sen sich dar­auf zurück­füh­ren. Mar­tin* sagt, er kann nur abwar­ten bis Lud­wig* alt genug ist, die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len und den Grund für die väter­li­che Distanz erfah­ren will. Lud­wig* wird irgend­wann Fra­gen stel­len und die fami­liä­re Situa­ti­on, in der er auf­ge­wach­sen ist, aus sei­ner Per­spek­ti­ve bewer­ten. Wer von bei­den Eltern­per­so­nen dann bes­ser weg­kommt, wird er ent­schei­den, dann — wenn er in ein paar Jah­ren nicht mehr von den Ent­schei­dun­gen der Eltern abhän­gig ist.

*Namen von der Redak­ti­on geändert