Überleben im Gerichtssaal!

Frau ist stehend im Zeugenstand

Sophie Wetendorf, zertifizierte psychosoziale Prozessbegleiterin unterstützt zukünftig Frauen* und Mädchen im Strafprozess

War­um fragt der Ver­tei­di­ger drei­mal die glei­che Fra­ge?
War­um sagen die immer wie­der, ich muss die Wahr­heit sagen?
Was pas­siert bei mir und in mei­nem Kör­per, wenn ich an die­sen Schre­ckens­mo­ment zurück­den­ke?
Wie kann ich die furcht­ba­re Situa­ti­on erzäh­len, ohne sie noch ein­mal zu durchleben?

Frau mit langen braunen Haaren
Psy­cho­so­zia­le Pro­zess­be­glei­te­rin der Inter­ven­ti­ons­stel­le des Weg­wei­ser e. V.
Sophie Weten­dorf

Mar­tha* leb­te mit ihrer Toch­ter im Frau­en­haus. Die Anzei­ge wegen Kör­per­ver­let­zung inner­halb der Part­ner­schaft wur­de wegen Gering­fü­gig­keit ein­ge­stellt, wie so oft — ‑das ist kein Ein­zel­fall. Auf­grund der Gewalt­er­fah­run­gen hat­te Mar­tha* Angst, ihrer Toch­ter allei­ni­gen Umgang mit dem Ex-Part­ner zu gewäh­ren und ent­schied sich, vor dem Fami­li­en­ge­richt Kla­ge ein­zu­rei­chen. Sie ver­lor den Pro­zess. Seit­dem lebt ihre Toch­ter im Wech­sel­mo­dell.
Mar­tha hat den Pro­zess ver­lo­ren, aber auch etwas Ent­schei­den­des gewon­nen — nähm­lich ihre Wür­de und ihre inne­re Kraft!
Psy­cho­so­zia­le Pro­zess­be­glei­tung ist eigent­lich nur für Opfer-Zeug*innen im Straf­ver­fah­ren kon­zi­piert, doch Sophie Weten­dorf, seit kur­zem erst zer­ti­fi­zier­te psy­cho­so­zia­le Pro­zess­be­glei­te­rin für Frau­en*, die von gen­der­ba­sier­ter Gewalt betrof­fen sind, ver­an­ker­te im Vor­feld des Gerichts­pro­zes­ses bei Mar­tha* empowern­de Trans­for­ma­ti­ons­ge­dan­ken, damit sie wür­de­voll durch den Pro­zess zu kommt:

Sät­ze wie: “Ich kann hier jeder­zeit den Raum ver­las­sen.”, “Ich gehe auf gar kei­nen Fall zu ihm zurück, wenn ich gehe, gehe ich zu mir nach Hau­se.”, “Heu­te hat er nicht die­se Macht über mich, wie damals.”, “Heu­te bin ich eine ande­re Frau* als damals!”

Frau, die sich die Fingernägel lackiert

Mar­tha* trägt am Tag des Gerichts­pro­zes­ses einen neu­en Nagel­lack, den sie noch nie auf­ge­tra­gen hat und ein Par­füm, das sie noch nie auf­ge­legt hat. Das tie­fe rot des Nagel­la­ckes erin­nert bei jedem Blick auf ihre Fin­ger­spit­zen dar­an, dass sie heu­te eine ande­re Frau ist als damals. Bei jedem tie­fen Atem­zug strömt der neue Duft in ihre Nase und erin­nert sie dar­an, dass heu­te eine völ­lig neue Situa­ti­on ist als damals.

Gewalt­er­fah­run­gen, ins­be­son­de­re Sexu­al­straf­ta­ten, sind in den meis­ten Fäl­len für betrof­fe­ne Mäd­chen und Frau­en trau­ma­ti­sie­rend. Eine Tat zur Anzei­ge zu brin­gen ist kein ein­fa­cher Schritt. Und die­se Situa­ti­on erneut durch­le­ben zu müs­sen, hin­dert zahl­rei­che Opfer dar­an, gegen die Täter gericht­lich vorzugehen.

Seit 2015 ist die Psy­cho­so­zia­le Pro­zess­be­glei­tung als Mit­tel des Opfer­schut­zes im Gesetz (Psych PbG) ver­an­kert. Der Bun­des­ver­band der Frau­en­not­ru­fe und Frau­en­be­ra­tungs­stel­len (kurz: bff) bie­tet schon seit 2014 eine zer­ti­fi­zier­te Aus­bil­dung und sichert damit ein stan­dar­di­sier­tes Vor­ge­hen in der Beglei­tung von Zeug*innen. Die vom BFF und der Kon­fe­renz der Justizminister*innen ver­ab­schie­de­ten Min­dest­stan­dards hel­fen, die Pro­zess­be­glei­tung trans­pa­rent zu machen und die Akzep­tanz durch die Pro­zess­be­tei­lig­ten zu sichern.

Frau im Gerichtssaal

Sophie Weten­dorf hat Jura und Sozi­al­päd­ago­gik stu­diert und arbei­tet seit mehr als drei Jah­ren in der psy­cho­so­zia­len Fach­be­ra­tung von gewalt­be­trof­fe­nen Frau­en* und Mäd­chen. Die Welt der Gerichts­sä­le ist ihr ver­traut. Nun ist sie seit 31.08.2022 zer­ti­fi­zier­te Pro­zess­be­glei­te­rin im Team des Gewalt­schut­zes beim Weg­wei­ser e. V.: 

“Mir geht es in der Pro­zess­be­glei­tung dar­um, die Opfer-Zeug*in so durch den Pro­zess zu beglei­ten, dass sie/er erho­be­nen Haup­tes da raus gehen kann! Der Straf­pro­zess ist gene­rell eine ein­ma­li­ge Situa­ti­on und vie­le ken­nen einen Gerichts­saal nur aus dem Fern­se­hen. Es fra­gen unend­lich vie­le frem­de Men­schen nach den schreck­lichs­ten und intims­ten Momen­ten dei­nes Lebens und der Pro­zess fin­det meist erst Jah­re nach der eigent­li­chen Tat statt.”

Als Mit­ar­bei­te­rin der Inter­ven­ti­ons­stel­le wird Sophie ihre eige­nen Klient*innen aber nicht durch den Pro­zess beglei­ten kön­nen. Der Umstand, dass sie selbst als “Zeu­gin vom Hören­sa­gen” in den Zeu­gen­stand geru­fen wer­den könn­te, wür­de zum Kon­flikt für die eige­nen Klient*innen füh­ren.  Auf­ga­be der Pro­zess­be­glei­tung ist es nicht, Zeu­gin­nen-Aus­sa­gen zu erör­tern und zu besprechen. 

Der Gerichts­pro­zess und die damit zusam­men­hän­gen­den Erin­ne­run­gen kön­nen auf die Zeug*innen retrau­ma­ti­sie­rend und desta­bi­li­sie­rend wir­ken. Vor allem im Vor­feld des Pro­zes­ses arbei­tet Sophie Weten­dorf mit den Frau­en*, um sie sicher und gesund durch die­se Zeit zu brin­gen. Sie hat viel gelernt, sagt sie, auch für ihre Arbeit insgesamt.

* Name ist von der Redak­ti­on geändert.