Beratung für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung im Landkreis Leipzig
Claudia Preuß im Interview mit Helen Siebner, Psychologin bei Bellis e. V.
Dadurch, dass die Worte “sexualisierte Gewalt” und “Vergewaltigung” so prominent auf unseren Flyern stehen, kann jede Person, die das Gefühl hat, dass sie in irgendeiner Weise betroffen ist, in die Beratung kommen. Egal, ob es eine ganz konkrete Sache oder Vorfall ist, um die es geht, oder, ob es sich irgendwo auf dem großen Spektrum von sexualisierter Gewalt bewegt. Ab Minute eins kann die betroffene Person über alles sprechen — muss aber keinesfalls alles erzählen. Niemand ist hier verpflichtet, die Details der Erlebnisse zu schildern.
Das Arbeitsfeld ist sehr breit. Betroffene können Fragen haben: “Warum geht es mir so, wie es mir geht?” oder “Bin ich schuld?” — Nein, natürlich nicht! Aber für einige ist es sehr wichtig, über die Frage zu sprechen. Manchmal kann ich auch nur informativ über bestimmte Dinge (zB. Anzeige, Gerichtsprozess) aufklären oder tatsächlich beruhigen und sensibilisieren. Oft haben Klient*innen mit Schlafproblemen, Isolation, Beziehungsproblemen oder Sexualität und Ängsten zu tun, auch darum kann es in der Beratung gehen.
Frage: Wo arbeitest du?
Ich arbeite ambulant im Landkreis Leipzig und hier vor Ort in Leipzig. Wir haben hier in Leipzig-Connewitz Beratungsräume und von hier aus fahre ich in den Landkreis. Manche nehmen das Angebot, hier nach Leipzig zu kommen, gern an. Aber ich habe auch ein gutes Netzwerk im Landkreis und kann dort erschiedene Räume nutzen. Zum Beispiel sind Kooperationen mit dem Wegweiser e.V. beim Thema Raumnutzung verbindlich. Aber ich habe auch Möglichkeiten in Grimma, Wurzen, Markkleeberg, Zwenkau, Pegau und Borna Orte anzubieten, wo die Betroffenen hinkommen können und es kommen immer weitere Orte hinzu. Eigentlich finden sich immer gute Möglichkeiten einen Beratungsort für die Klient*innen in der Nähe anzubieten. Falls es keine Möglichkeit gibt, geht auch ein gemeinsamer Spaziergang. Und was sowieso immer geht, sind Gespräche am Telefon oder per Video.
Frage: Das Feld deiner Arbeit ist sehr sensibel. Welche Hinweise würdest du Fachpersonen an die Hand geben, um in Fällen der Bewusstwerdung gut und angemessen zu reagieren? Welcher Umgang wäre professionell und was sind dabei deine Instrumente?
Die Beratung von Personen mit Gewalterfahrungen ist sehr divers und nicht alles funktioniert für alle gleich. Was mir hilft, ist, dass ich 100%ig parteilich an der Seite der Betroffenen stehen kann. Aber ich weiß auch, dass das nicht jede Fachperson leisten kann, die zum Beispiel in Schule, in der Justiz oder in der Jugendhilfe Kontakt zu Betroffenen hat. Außerdem empfehle ich Fachpersonen, sich mit dem Thema Trauma auseinanderzusetzen. Grundwissen ist da enorm hilfreich.
Ein anderer Aspekt ist der sehr belastende und emotional bewegende Inhalt, der kommen kann. Meine Faustregel ist, alles was rein kommt, muss auch wieder raus. Für mich funktioniert die klare Trennung von Arbeit und Privat sehr gut. Ich habe da ganz klare Grenzen gesetzt. Keine berufliche E‑Mail kommt bei mir zu Hause an und ich habe auch kein Handy, was ich mit nach Hause nehme. Ich weiß, dass das nicht jede Person so einfach realisieren kann, aber manchmal hilft sich wieder daran zu erinnern, dass es erlaubt ist und enorm wichtig ist diese Grenze zu ziehen.
In Fachkreisen beobachte ich, dass Berater*innen, die mit diesen gewaltvollen Kontexten zu tun haben, oft vereinzelt sind. Sowohl, weil es sowieso schon Einzelkämpfer*innen sind, die an vielen Stellen versuchen etwas zu reißen, aber das passiert auch manchmal innerhalb von Teamstrukturen. Die Frage nach der eigenen Grenze und dem eigenen Zustand müssen wir uns ehrlich stellen. Kann ich diese Art der Beratung aktuell überhaupt noch gut leisten? Diese Frage stellen sich Fachfrauen immer noch zu selten! Kollegiale Unterstützung, Teamberatung und Intervisionen aber auch Unterstützung darüber hinaus ist sehr wichtig, nicht nur dann, wenn’s brennt, sondern kontinuierlich. Ganz oft passiert es, dass die Frage kommt: “Braucht heute noch jemand Intervision? Nein? O.k.! Dann lasst uns schnell noch was Organisatorisches besprechen.” Wenn es geht, sollten wir uns diese Räume für Gespräch und Entlastung offen halten.
Frage: Wo sind die Grenzen deines Arbeitsbereiches? Wo fängt deine Arbeit an und wo hört sie auf?
Die Beratung, die ich anbiete, ist freiwillig. Niemand “muss” hierherkommen. Das heißt, meine Arbeit beginnt ab dem Moment, wo eine Person, eine Fachperson oder auch Angehörige von Betroffenen das Gefühl haben, sprechen zu wollen, über das, was passiert ist. Auch Fachpersonen können mich kontaktieren. Die Arbeit endet bei Rechtsberatung und Therapie. Rechtsfragen, wie zum Beispiel die Art der Straftat oder ein zu erwartendes Strafmaß, darüber kann ich keine Aussagen machen. Aber ich kann durch den Prozess führen und einiges erklären.
Und wir machen hier keine Traumatherapie, sondern beraten traumasensibel. Ich kann durchaus unterstützen und Hilfestellungen bieten bei der Suche nach einem Therapieplatz, aber wir haben leider auch keinen heißen Draht in die Wartezimmer von Traumatherapeuten.
Frage: Was ist für dich ein optimaler Fallverlauf?
Die können ganz unterschiedlich sein. Das sind manchmal kurze Kontakte, wo ich das Gefühl habe, dass sie gut laufen. Klient*innen holen sich innerhalb von 1–2 Sitzungen etwas Wissen ab, und das hilft dann. Vielleicht nur die grundlegende Einsicht von “Ja, das war Gewalt” und “Ich bin nicht schuld!”. Oder auch: Was mache ich als nächstes? Wenn eine Person durch wenige Hinweise wieder einen guten Griff ins Leben hat und sich neu organisiert, fühlt sich das erfolgreich an. Aber ebenso erfolgreich können längere Verläufe sein, wo wir gemeinsam Strategien entwickeln, wie Betroffene wieder etwas Sicherheit gewinnen können und Kontrolle über ihr Leben gewinnen.
Frage: Wie viel Beratung kannst du anbieten?
Wir bieten in Absprache mit dem Team hier bei Bellis e. V. für Betroffene 10 ‑15 Termine an. Wenn klar ist, dass es eigentlich viel mehr braucht als das, versuche bei der Vermittlung in eine Klinik oder in eine ambulante Therapie zu unterstützen.
Frage: Wenn du in irgendeiner Form politischen Spielraum hättest, was sind die Punkte, die du verändern würdest? Welche strukturellen Dinge begrenzen dich in deiner Arbeit?
Hauptthema, was mich immer wieder beschäftigt, ist der riesige “blinde Fleck” für das Thema sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung. Betroffenheit von Frauen hat viel zu wenig Raum in der Politik, d.h. dass es viel zu wenig Geld dafür gibt. Das ist echt ein Thema, was mich wahnsinnig sauer machen kann. Es gibt so viele super ausgebildete Kolleg*innen, die motiviert sind, aber dann unter so prekären Arbeitsbedingungen arbeiten und die Arbeit von zwei Vollzeitkräften machen. Gerade im Landkreis braucht es außerdem Zugang zu vernünftiger Mobilität für Kolleg*innen, die unterwegs sind.
Wenn es Anerkennung und Wertschätzung gäbe, dass die Arbeit wichtig ist, dann würde sie auch entsprechend bezahlt werden. Dafür wünsche ich mir politisch mehr Priorität. Engagierte Politiker*innen, wie zum Beispiel die Gleichstellungsbeauftragten im Landkreis, stehen da hinter der Forderung, aber sind, was die finanzielle Verteilung betrifft, nicht ausreichend entscheidungsfähig, geschweige denn, dass sie überhaupt Mittel für die Unterstützung im Hilfesystem zur Verfügung hätten.
Kontaktdaten und Vermittlung:
Helen Siebner
Beraterin bei Bellis e. V. für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung
Tel: 0341 – 39 28 55 60
E‑Mail: helen.siebner@bellis-leipzig.de